Umnutzung

_ von Theresia Gürtler Berger

 

Nicht „Umbauen statt Neubauen“ wolle man propagieren, aber „die Zeitverhältnisse, (lassen) (…) die Prognose berechtigt erscheinen (…), dass künftig Umbauen im gesamten Bauwesen an Bedeutung gewinnen wird.“1 Konstanty Gutschows Prognose für die Krisenzeit der 1930er Jahre erfüllt sich auch heute 70 Jahre später. Und wie damals hält sich die „landläufige(…) Einstellung, (…) Umbauaufgaben als zweitklassig“ einzustufen. Die Publikation „Umbau“ setzt 1932 dagegen, dass mit der „gleiche(n) Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, mit gleicher Liebe (…) jeder Umbau als ein Dienst an der Sache“2 zu erfüllen sei. Heutige Bespiele zeigen das hohe gestalterische Potential der Umnutzung.

I. Ein Beispiel

Ein „altes faltiges Gesicht mit Nickelbrille“3 ist das Semper`sche Kulissendepot in Wien. Vermutlich nach einem Entwurf von Gottfried Semper erstellte Karl Hasenauer 1874 – 1877 in der Nähe der Ringstraße einen viergeschossigen Neorenaissancebau als Kulissendepot der königlichen und kaiserlichen Hoftheater. Ignaz Gridls raffinierte Konstruktion aus schlanken Gusseisensäulen, Eisenträgern und filigranen Gitterbindern bis in die Dachträgerkonstruktion fungiert als tragendes Skelett für die hölzernen Boden- und Dachbohlen. Weit überspannte Räume, feinproportionierte Treppen und Galerieräume sind zwischen massiven Außenmauern beidseits einer tragenden Mittelwand in einem annähernd trapezförmigen Grundstücksgeviert eingepasst. An der schmalsten Stelle sitzt die Torzufahrt zum Prospekthof. Oval in der Grundform weitet er sich wie eine Birne. Über vier Geschosse gibt er den Blick auf umlaufenden Galerien und in den offenen Dachstuhl frei.

75 Jahre – bis 1952 behält das Gebäude seine ursprüngliche Nutzung; dient den Wiener Bundestheatern als Kulissendepot mit Lager und Werkstatt. Aber erst 50 Jahre später – nach jahrzehntelangem Leerstand und Abbruchdrohung – kann es der Wiener Architekt Carl Pruscha zum Atelierhaus für die Malklassen sowie die Glyptothek der Wiener Akademie der Bildenden Künste umnutzen: Das Depot wurde „revitalisiert“ und nicht mit einer neuen Nutzung konfrontiert, sondern sein ihm innewohnendes Raum- und Funktionsangebot wieder entdeckt.

Elektro, Brandschutz, Sprinkler, Lüftung und Heizung, aber auch Fluchtwege, Lift, Lager und Sanitärzellen werden auf das Gebäude hin konzipiert. Ziel ist es, sie im Bestand als neu gestaltete, jedoch zurückhaltende Elemente zu integrieren: Außen zwei Fluchtreppentürme aus Stahl, innen neue Elektroleitungen konsequent über Putz installiert, bestehende Fenster additiv optimiert. Eingeschossige Container aus Chromstahl schieben sich entlang der Mittelwand in die großen Ateliersäle ein. Als eigenständige „Großmöbel“ bergen sie Lagerflächen, lokal zentrierte Waschräume und bieten zusätzliche Galerieflächen. Die Treppenhäuser werden über Rahmen mit Schwertern statisch neu aufgehängt bzw. ihre zu niedrigen Geländer mit einer zweiten Reihe von Staketen gesichert. Die Patina als Altersspur bleibt selbst in den Oberflächen der strapazierten Bodenbeläge wie den hölzernen Trittstufen, den gemalten Stützen oder Türen, Fenstern und Wandfeldern im Inneren und Äußeren erhalten.

Zwei Themen prägen diese Umnutzung: Das Bewahren und Aktivieren des Bestehenden und die additive Setzung des Neuen. Wenn auch neu im Material, in der Formensprache und in der Konstruktion ordnet es sich dem architektonisch und materiell bestimmenden Bestand unter und reduziert bewusst die technischen und baulichen Eingriffe. Das Geheimnis des architektonischen und denkmalpflegerischen Erfolges und der Nachhaltigkeit liegt im Wahrnehmen der architektonischen und räumlichen Qualität und hohen Funktionalität, dem Erkennen und Interpretieren der baulichen Logik, Struktur und des Materialkanons, der Systematik und der Grenzen des Gebäudes. Die Um- bzw. Neunutzung im Sinne einer Revitalisierung kommt aus dem bestehenden Gebäude heraus, orientiert sich an dessen Systematik, dessen räumlichen und materiellen Angebot. Und belebt es mit der neuen Nutzung wieder. Die Grenzen, die das Gebäude vorgibt, werden so zum ausschöpfbaren Potential. Neu und Alt sind nicht nur im Gleichgewicht, sondern geschickt miteinander verwoben.

II. Definition Um- und Neunutzung aus Sicht der Denkmalpflege

Das tägliche Geschäft der „praktischen Denkmalpflege“ ist nicht nur vom materialgerechten Unterhalt oder Restaurierung des Bestandes, sondern vor allem durch den latenten oder offensichtlichen Nutzungs- und Funktionswechsel, der „Neu- oder Umnutzung“ geprägt. In der Denkmalpflege gilt die Wahrung der ursprünglichen Nutzung als erste Prämisse zur Eindämmung von baulichen Eingriffen. Gleichzeitig setzt man auf die Um- oder Neunutzung als „Allheilmittel“ zum Erhalt eines Objektes, als Bewahrung vor Leerstand und raschem Verfall. Zwischen mehr oder minder tiefen Eingriffen für eine Um- oder Neunutzung und einen den Verfall beschleunigenden Leerstand sieht sich die Denkmalpflege gezwungen abzuwägen.

Die Individualität eines Gebäudes, seine Unverwechselbarkeit ist zu einem hohen Teil durch seine Funktionen und Nutzungen bestimmt. Sein räumliches Angebot, seine statische Konstruktion, sein Materialkanon bis hin zur technischen und mobilen Ausstattung stehen im unmittelbaren Bezug zur Nutzung. Hauscharakter und -standard definieren sich über die Nutzung. Die Massivität und die damit verbundene Immobilität der Gebäude suggerieren eine langlebige, eindeutige Gebäudenutzung. Dennoch ist die „Geschichte der Architektur eine Geschichte der Umnutzung“4 , eine Abfolge fortgesetzten Nutzungswandels. Die hohen Material- bzw. Erstellungskosten legen auch im ausgehenden 20. Jahrhundert eher einen Wandel der Nutzung nahe, die Neu- oder Umnutzung, als den sofortigen Abbruch eines funktionslos gewordenen Gebäudes.

Gerade wegen ihrer langen Lebensdauer und örtlichen Gebundenheit befinden sich Gebäude fortwährend „im Fluss“. Sie sind sich ändernden gesellschaftlichen, politischen sowie wirtschaftlichen und bautechnischen Größen unterworfen. Oftmals prägen zeitgebundene Nutzungstrends ihre komplexen und dynamischen Veränderungsprozesse, bestimmen Tempo und Grad des Wandels am Gebäude.

Auch bei gleicher Nutzung kann es zur schleichenden und tiefgreifenden Umnutzung eines Gebäudes kommen: im Wohnungsbau z.B. greifen die steigenden technischen Anforderungen und die zunehmende Vergrößerung der beheizten Wohnfläche tief in die Substanz ein. Gravierend und folgenschwer ist sowohl der kontinuierliche als auch der unerwartete Nutzungswandel. Beide können die Ausgangsnutzung zum Verschwinden bringen und damit zur Umnutzung bzw. Neunutzung eines Objektes führen, oftmals mit der Gefahr der Übernutzung.

Wandelt sich die Nutzung, ändert sich je nach Grad des Wandels nicht nur das Erscheinungsbild des Objektes, sondern die Substanz kann regelrecht ausgetauscht werden. Je höher der Abweichungsgrad der Neu- oder Umnutzung von der ursprünglichen Nutzung, desto tiefer sind meist die Eingriffe in die vorgegebenen Strukturen und Materialien. Um- und Anbauten, Aufstockungen oder Unterkellerungen können im Zuge von Nutzungsoptimierungen bzw. -steigerungen oder kompletter Umnutzungen zum Entkernen oder Abbrechen führen. Die Übernutzung – die Unverträglichkeit der Neunutzung mit dem Potential des bestehenden Gebäude – sprengt die Strukturen des Objektes und fördert den Verschleiß der Materialien und vorgegebenen Raumstrukturen: der Kollaps des Gebäudes droht.

III. Nachhaltigkeit der Um- und Neunutzung5 als Chance für die Denkmalpflege

Spätestens hier setzt die Frage nach der Nachhaltigkeit ein sowie den Chancen und Grenzen der Neu- oder Umnutzung auch im herkömmlichen Baubestand. Nachhaltig können nur solche Nutzungen sein, die das individuelle bestehende System des Objektes und seine immanenten Flexibilitätsgrade sowie Grenzen erfassen. Sie müssen die Gewähr für die notwendige Ausgewogenheit zwischen einer zum Überleben des Objektes notwendigen Nutzung und dem Erhalt wertvoller Substanz in seiner individuellen Ganzheit bieten. Diese Faktoren beschreiben einerseits Kenngrößen und andererseits Grenzziehungen. Nutzungen, die diese Faktoren negieren, entsprechen meist nur einzelnen der ausgewiesenen Kriterien für Nachhaltigkeit. Die Nachhaltigkeit lässt sich auf die ureigenste Tätigkeit der Denkmalpflege übertragen: Das substantielle Bewahren und Erhalten erfüllt die Kriterien der Nachhaltigkeit in einem hohen und vielfältigen Maße, ebenso wie die Wieder- und Weiterverwendung in der Um- und Neunutzung von Gebäuden, die unter hohem Energie- und Ressourceneinsatz erstellt wurden.

Die Nachhaltigkeit im denkmalpflegerischen Kontext weist über die materiellen Werte hinaus auf den sachten und weitblickenden Umgang mit immateriellen Werten wie Erinnerung, Identität oder Authentizität in den materiellen Spuren. Die Nutzung von bestehender Bausubstanz oder die „Verwendung der Überreste von Ereignissen“6 wie es Claude Lévi-Strauss in „Das wilde Denken“ bezeichnet, bindet die kulturellen Belange ein.

Der Platz der Denkmalpflege und Bauwerkserhaltung im Reigen der Fächer um die Nachhaltigkeit ist nicht selbstverständlich. Wie in der Baubranche steht in der Denkmalpflege eine umfassende Definition der Nachhaltigkeit noch aus. Die Wort- und Begriffskaskade „umnutzen statt umbauen, umbauen statt neu bauen“7 könnte ein erstes Gerüst dazu sein. Neben den bisherigen drei Ebenen Ökologie, Ökonomie und Soziales sind Vernetzung, Prozesshaftigkeit und langfristige Zeiträume notwendig. Und die bislang vernachlässigte kulturelle Ebene könnte die Denkmalpflege als feste Basisgröße in der Nachhaltigkeitsdebatte etablieren.

Im Bestand verbergen sich bei nachhaltigem Umgang enorme Chancen. Die Denkmalpflege liefert seit längerem den Beweis, dass die Umnutzung ein ernst zu nehmender überregionaler Wirtschaftsfaktor und Auslöser innovativer Technologietransfer und –prozesse ist. In der system- und materialorientierten Arbeit am Bestand liegen architektonisch herausfordernde Aufgaben mit komplexen innovativen Lösungsspektren. Die geforderte Langzeitoptik entpuppt sich als Korrelativ zum temporären, einseitigen Konsumverhalten unserer Zeit auch in städtebaulichen und stadtplanerischen Fragen.

IV. Geschichte der Umnutzung der letzten 100 Jahre

Umnutzung ist keine Erfindung unserer Zeit. Seit jeher gehörten Um- und Neunutzungen bestehender Bausubstanz mit zum Kerngeschäft der Architekten und Baumeister. Das Spektrum reicht vom sanften Einnisten einer neuen Funktion bis zum entkernenden Umbau bzw. zur totalen Transformation des bestehenden Baus. Je nach gesellschaftlich-politischen und wirtschaftlichen Ereignissen verfallen Nutzungen, sehen sie sich drastischen Umnutzungen gegenüber oder nur einzelne Bauteile werden gestalterisch überformt.

„In anderer Weise haben die letzten Jahrzehnte mit ihren umbrechenden Ereignissen mehrmals einschneidende Umstellungen und viel Umbauten mit sich gebracht. Der Krieg brachte die Umstellung unzähliger Fabriken auf Munitionsfabrikation, von Schulen auf Lazarette. Der Ausgang des Krieges und die Revolution brachte neue Veränderungen: Kasernen wurden zu Wohnungen, Fabriken, Fürsorgeheimen, Schlösser wurden zu Verwaltungsgebäuden und Gemäldegalerien. Die Inflationszeit brachte die Hochflut der Aufstockungen von Bankgebäuden und Geschäftshäusern, die Dachstuhlausbauten in den Mietskasernen zu Wohnungen. Die Wirtschaftskrise endlich ließ die Flucht aus der großen Wohnung katastrophale Formen annehmen und führte zu ihrer Teilung in selbständige Teilwohnungen. Die sich fortsetzenden Strukturwandlungen kommender Zeiten werden als Folgeerscheinungen neu auftretender Bedürfnisse ebenso Umbauten mit sich bringen.“8 , so umschreibt Gutschow die Zeit des Ersten Weltkrieges bis zur Weltwirtschaftskrise. Er reiht sich damit in die jahrhundertalte „Geschichte der Umnutzung“ ein, wie den umgenutzten römischen Amphitheatern oder den zu Schulen , Ställen oder Steinbrüchen umgerüsteten Kirchen, Klöstern und Schlössern in der Säkularisation.

Nach dem Zweiten Weltkrieg führen die Strukturveränderungen in der Landwirtschaft nicht nur zu exklusiven Wohnungen in umgebauten Scheunen und Ställen, sondern auch zum Verlust der zahlreichen Wirtschafts- und Nebengebäude; markante Einschnitte in das Dorfbild und dessen Sozial- und Wirtschaftsstruktur: Die Dorfgemeinschaft mutiert zum Schlafdorf mit leerstehender Dorfkirche, -schule und Gemeindehaus. In den Städten nutzt man angesichts der „befreiten“ Gesellschaft seit Mitte des 20. Jahrhunderts Sakralräume ebenfalls erneut um – zu Garagen, Discos, Einkaufszentren, exklusiven Wohnungen oder Gemeinde- und Kulturzentren. Die Infrastrukturbauten der Gründerzeit wie Bahnhöfe, Straßenbahndepots, aber auch Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke fielen leer: Einige sind prominent umgenutzt wie das Bonner Wasserwerk zum Plenarsaal, während die hundertjährige Wartehalle des Basler Bahnhofes nun das Einkaufen rundum die Uhr erlaubt. Die Globalisierung führte in den europäischen Städten zu weitflächigen Industriebrachen. Mit dem zunehmenden Abstand der jetzigen Dienstleistungs- zur Industriegesellschaft ästhetisiert der Zeittrend unwirtliche und unwirkliche Industrieareale bzw. -gebäude zu gesuchten Orten für offene Wohn- und Arbeitsräume. Etablierte Kultureinrichtungen besetzen die einstigen alternativen Kulturnischen in den aufgelassenen Produktionshallen. Diese zeitgebundenen, gesellschaftlich und wirtschaftlich konditionierten Entwicklungen machten es erst möglich, in ehemaligen Werk- und Montagehallen wie z.B. dem Schiffsbau der Maschinenfabrik Sulzer Escher Wyss in Zürich9 , in den Räumen der Zeche Zollverein oder der Bochumer Jahrhunderthalle10 nach dem Fördern, Sieben und Waschen, dem Schmelzen und Giessen oder Nieten und Schweißen Theater zu inszenieren, Jazz zu spielen oder gediegen zu tafeln.

Ganze Stadtteile wie auch die Altstädte wandeln sich über Zwischen-, Neu- und Umnutzungen. Die kulturelle Um- und Neunutzung des Schiffsbaus zum Theater- und Konzertort hat die städtebauliche Revitalisierung eines brachliegenden Industriequartiers maßgeblich mit beeinflusst. Was vorher nicht vorstellbar war, im „kleinen Schwarzen“ eine Montage- und Werkhalle aufzusuchen, wurde trendig und zum Marketingfaktor. Ein Identitätsfaktor, der auch auf nicht unter Schutz gestellte Industriehalle übertragen wurde, um die „angesagte“ Authentizität des Industrieortes mit einer kommerziellern Neunutzung zu verbinden. Nach den buntgemischten Gewerbe- und Büroparks in großen Industriehallen, mutieren die innerstädtisch gelegenen Brachen zunehmend zu Loftwohnungsparks.

Im europäischen Vergleich11 der Umnutzung von Industrieanlagen lassen sich Unterschiede ausmachen. Gestützt auf jeweilige Bautradition und -verständnis scheint eine gute wirtschaftliche Situation den Druck zum Abbruch oder zum kostspieligen und irreversiblen Umnutzen von Industriebrachen zu erhöhen. Provisorische, kostengünstige und reversible, zumeist nachhaltige Zwischennutzungen, die das Potential solcher Brachen als neue Chancen erkennen und flexibel auf wirtschaftliche Veränderungen reagieren können, geraten dabei ins Hintertreffen.

V. Umnutzung im Trend oder kommentierte Literatur zur Umnutzung

Interdisziplinäre Studien in der Baubranche entdecken mittlerweile die komplexen Verflechtungen von Stoff- und Energiekreisläufen mit der Ökonomie. Zwar lautet eine denkmalpflegerisch erhärtete These „nachhaltig ist, was man nutzt, ohne an der Substanz zu zehren!“12 Dennoch findet sich das profunde Wissen der Denkmalpflege, das aus dem seit Jahrhunderten pragmatisch angewandten Wieder- und Weiterverwenden von Baustoffen bis hin zu einzelnen Bauteilen als bedeutungsschwere Spolien genährt wird, kaum in fächerübergreifenden Studien, der Fachliteratur und Forschung oder gar in der Öffentlichkeit wieder.

„Umnutzung“ oder „Reconversion bzw. Adversion“ liegen im Trend: Um- und Ausbau sowie der Weiterbauen im Bestand beherrschen die Aufgabenpalette der Architekten. Eine deutliche Verlagerung der architektonischen Tätigkeit vom Neubau ins Planen und Bauen im Bestand ist feststellbar. Dies spiegelt sich zum Teil im verstärkten Aufbau von Graduiertenkollegs, Master- und Aufbaustudiengängen zur Altbausanierung wieder und in der seit der Jahrtausendwende sprunghaft gestiegenen Zahl von Publikationen zum Thema Umnutzung. Es überrascht nicht, dass in erster Linie mehr oder wenig bautypologisch geordnete Beispielsammlungen dominieren. Nur vereinzelt finden sich Überblicksarbeiten oder analytische interdisziplinär angelegte Studien zum Phänomen Umnutzung: Topographisch nur auf Bayern bezogen bietet z.B. Martin Hahn nicht nur einen Überblick zu den „historischen Umnutzungen“ der Säkularisation, sondern wertet sie auch bautypologisch aus. Er analysiert den Wandel der staatlichen Funktionen, die Zyklen der niederschwelligen Zwischennutzung, den typisierten Umgang vom Leerstand bis zum Abbruch, das Material- und Raumrecycling oder das Fortführen der Nutzungen bis in die konservierende Musealität, aber auch die Neunutzung nach massiven Umbauten.

Die Umnutzungen des 20. Jahrhunderts sind in dieser Art noch nicht erfasst, geschweige denn flächendeckend dokumentiert. In den Standardwerken13 zur Denkmalpflege findet sich die Umnutzung als Teil des denkmalpflegerischen Alltaggeschäftes. Erste interdisziplinäre Studien14 entdecken zusammen mit der Denkmalpflege in der Baubranche die komplexen Verflechtungen von Stoff- und Energiekreisläufen mit der Ökonomie wie Niklaus Kohlers und Uta Hasslers „Umbau, Über die Zukunft des Baubestandes“ oder „Das Verschwinden der Bauten des Industriezeitalters, Lebenszyklen industrieller Baubestände und Methoden transdisziplinärer Forschung“. Tiefergehende Studien nach den denkmalpflegerischen Kriterien wie Eingriffstiefe, Materialaustausch oder eine Aufschlüsselung nach betroffenen Bautypen, vernetzt mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründe bzw. deren Auswirkungen auf den historischen Gebäudebestand fehlen. Umso mehr Gewicht erhalten die jüngsten Publikationen wie Johann Jessens und Jochem Schneiders städtebaulich ausgerichtete Arbeit „Umnutzungen – total normal“, erschienen in der kommentierter Beispielsammlung „Bauen im Bestand, Umnutzung, Ergänzung, Neuschöpfung“, aber auch in der Wüstenrot Publikation „Umnutzungen im Bestand, Neue Zwecke für alte Gebäude“.

Erstmals aufgeworfen, aber noch nicht abschließend beantwortet sind Fragen nach dem Preis der innerstädtischen Verdichtung, den Möglichkeiten und Grenzen der Wertsteigerung in der Umnutzung, der Langlebigkeit der gewählten Maßnahmen, aber auch nach der Gefahr einer weiteren Ausweidung der Objekte und Städte oder der wachsenden Dynamisierung der Erodierung im Bestand.

VI. Ausblick

Betroffen vom dynamischen Wandel sind die Menschen, und das vielfältige bauliche Erbe in seiner Nutzung. Um- oder Neunutzung bestehender Bausubstanz ist heute eine der Hauptaufgaben für Architekten, Bauherren und Investoren, und Alltagsarbeit für die Denkmalpflege. Keineswegs eine alltägliche Umnutzung ist dagegen das propagierte „permanente Provisorium“ bei der Neunutzung einer Basler Volksbankfiliale als Literaturhaus. Behutsam stückchen- und etappenweise wird das Bestehende in Besitz genommen. Die Wiederverwendung der am Ort demontierten Bauteile und Baumaterialien ermöglicht erst die kostengünstige, wirtschaftliche und ökologisch tragbare Umnutzung im Sinne einer funktionellen Umstrukturierung.

Gestützt auf das ökonomische Prinzip, nicht die Substanz einer Firma aufzuzehren, entpuppt sich diese denkmalpflegerisch nachhaltige Um- und Neunutzung als eine „Wissenschaft des Selbstverständlichen. Denn es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dass wir die Substanz, von der wir leben, nicht opfern“15. Ebensowenig sollten wir die Substanz aufzehren, durch die wir uns erinnern.

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Literatur zur Umnutzung:

Hassler, Uta/Kohler, Niklaus (Hg.), Das Verschwinden der Bauten des Industriezeitalters. Lebenszyklen industrieller Baubestände und Methoden transdisziplinärer Forschung, Berlin 2004. (Industriebauten: Forschungen zum Bestand, Lebenszyklen und –schicksale sowie zur Verlustgeschwindigkeit)

Martin, Dieter/Kreutzberger, Michael (Hg.), Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege. Recht – fachliche Grundsätze –Verfahren – Finanzierung, München 2004, S. 206-212. (übergeordnete Betrachtung)

Thomas, Horst: Weiternutzung und Umnutzung. in: Thomas, Horst (Hg.), Denkmalpflege für Architekten und Ingenieure. Vom Grundwissen zur Gesamtleitung, Köln 2004, S. 96-112.

Bundesamt für Kultur (Hg.), Schiffbau Transformation eines Ortes. Basel 2003. (künstlerisch ambitionierte Publikation eines mittlerweile archetypischen Wandlungsprozesses eines Industriequartiers bzw. -gebäudes)

Jessen, Johann/Schneider, Jochem: Umnutzungen – total normal. in: Schittich, Christian (Hg.), Bauen im Bestand. Umnutzung, Ergänzung, Neuschöpfung, in: Im Detail, Basel, Boston, Berlin 2003, S. 11-21. (empfehlenswert, Überblick bis in den Städtebau und die Planung) Schittich, Christian (Hg.), Bauen im Bestand. Umnutzung, Ergänzung, Neuschöpfung, in: Im Detail, Basel, Boston, Berlin 2003. (empfehlenswert, gute Beispielsammlung)

Wüstenrot Stiftung (Hg.), Umnutzungen im Bestand. Neue Zwecke für alte Gebäude, Stuttgart, Zürich 2000. (empfehlenswert)

Hassler, Uta/Kohler, Niklaus/Wang, Wilfried :Umbau. Über die Zukunft des Baubestandes, Tübingen, Berlin 1999. (empfehlenswert, neue Optik in die Komplexität der Umnutzung)

Hahn, Martin: Historische Umnutzungen. Gebäude des öffentlichen Lebens im Wandel der Zeiten, Beispiele aus Bayern, Dissertation, Eigenverlag, Bamberg 1999. (sehr interessante Zusammenstellung der Umnutzung in der Säkularisation in Bayern)

Michler, Jürg. Das Thema „Umnutzung von Baudenkmälern“ im historischen Kontext. in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg, Heft 3, 1998, S. 125-127.

Cantacuzino, Sherban: Neue Nutzung alter Bauten. Die Zukunft der historischen Architektur-Substanz, Stuttgart, Berlin, Köln 1989. (Beispielsammlung länderübergreifend, nach Bautypen mit Einführungsessay versehen.)

Robert, Philippe: Reconversions, Adaptions. New Uses for Old Buildings, Paris 1989. (Länder übergreifende Beispiele, kurze Einführung aus Architektensicht, Plädoyer für Umnutzung als gestalterische Architekten-Aufgabe)

Michael Petzet, Nutzung und Umnutzung von Baudenkmälern, in: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz, hrsg., Das Baudenkmal in der Hand des Architekten. Umgang mit historischer Bausubstanz, in: Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 37, Bonn 1988, S. 23-26.

Zentralstelle für Normungsfragen und Wirtschaftlichkeit im Bildungswesen (Hg.), Dokumentation von Beispielen der Umnutzung. Studien 75, Berlin 1986. Schulze, Jörg: Nutzung, Umnutzung, Übernutzung Probleme der Nutzung von Denkmälern. in: Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hg.), Probleme der Umnutzung von Denkmälern. Dokumentation der 11. Pressefahrt des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, in: Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 29, Bonn 1985, S. 15-29.

Deutscher Werkbund e.V. (Hg.), werkundzeit. Umnutzung, Vom sinnvollen Gebrauch der Reste, Heft 1, 1984. (Zeitkolorit um 1984, die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe und Bewegungen, Sprachrohr unterschiedlicher Aktivitätsgruppen, Blick hinter die Kulissen, europaweit)

Confurius, Gerrit: Die Geschichte der Architektur ist eine Geschichte der Umnutzung. in: Deutscher Werkbund e.V. (Hg.), werkundzeit. Umnutzung, Vom sinnvollen Gebrauch der Reste, Heft 1, 1984, S. 4-6. (1989 politisch: Zeit der Umnutzungs-Bewegung, Schwerpunkt Industriebrachen, etliche der später erfolgreich umgenutzten Industriebauten drin. Artikel Confurius blickt weiter zurück, stellt die Umnutzung als Teil der Architekturgeschichte dar, Beispiele aus römischer Zeit, Renaissance, Reformation, Säkularisation etc… empfehlenswert)

Moid, Manfred: Fragen der Nutzung und Veränderung von Baudenkmälern. in: Gebessler, August, Eberl, Wolfgang (Hg.), Schutz und Pflege von Baudenkmälern in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Köln 1980, S. 257-287.

Müller-Menckens, Gerhard: Neues Leben für alte Bauten. Über den Continuo in der Architektur, Stuttgart 1977. (Zeitdokument: Altbausubstanz als Modelliermasse verstanden, fragwürdige Eingriffe, Entkernungen, Aufstockungen, Fehlen der Angemessenheit, noch heute wirken die neuen Elemente fremd am/im Altbau)

Gutschow, Konstanty/Zippel, Hermann: Umbau. Fassadenveränderung, Ladeneinbau, Wohnhausumbau, Wohnungsteilung, seitliche Erweiterung, Aufstockung, Zweckveränderung. Planung und Konstruktion, 86 Beispiele mit 392 vergleichenden Ansichten, Grundrissen und Schnitten, Stuttgart 1932. (Zeitdokument: Umnutzung angesichts der Wirtschaftskrise der 30er Jahre, zu meist deutsche Beispiele, spannende Darstellung der Umnutzung im Neuen Bauen)

Anmerkungen

  1. 1. Gutschow, Konstanty/Zippel, Hermann: Umbau. Fassadenveränderung, Ladeneinbau, Wohnhausumbau, Wohnungsteilung, seitliche Erweiterung, Aufstockung, Zweckveränderung. Planung und Konstruktion, 86 Beispiele mit 392 vergleichenden Ansichten, Grundrissen und Schnitten, Stuttgart 1932, Vorwort.
  2. 2. Gutschow, Konstanty/Zippel, Hermann: Umbau. Fassadenveränderung, Ladeneinbau, Wohnhausumbau, Wohnungsteilung, seitliche Erweiterung, Aufstockung, Zweckveränderung. Planung und Konstruktion, 86 Beispiele mit 392 vergleichenden Ansichten, Grundrissen und Schnitten, Stuttgart 1932, Vorwort.
  3. 3. Stock, Jean/Baatz, Wolfgang: Semper-Depot in Wien. in: Baumeister Heft 3 (1997), S. 34.
  4. 4. nach Confurius, Gerrit: Die Geschichte der Architektur ist eine Geschichte der Umnutzung. in: Umnutzung. Vom sinnvollen Gebrauch der Reste, in: Deutscher Werkbund e.V. (Hg.), werkundzeit. Heft 1 (1984), S.3, 4-6.
  5. 5. Vgl. legendäre Rede der norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland: Aus dem umgangssprachlichen Wort „nachhaltig“ wurde ein Fachbegriff, der Nachhaltigkeit als „ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Verträglichkeit“ definiert.
  6. 6. nach Weiss, Klaus-Dieter: Scheinbar kompakt. in: Werk. Bauen und Wohnen, Heft 9 (1999), S.42.
  7. 7. zitiert nach Urs Hettich, ehemaliger Kantonsbaumeister von Bern, anlässlich seines Vortrags im Rahmen der Weiterbildung für DenkmalpflegerInnen.
  8. 8. Gutschow, Konstanty/ Zippel, Hermann: Umbau. Fassadenveränderung, Ladeneinbau, Wohnhausumbau, Wohnungsteilung, seitliche Erweiterung, Aufstockung, Zweckveränderung. Planung und Konstruktion, 86 Beispiele mit 392 vergleichenden Ansichten, Grundrissen und Schnitten, Stuttgart 1932, S. 3-4.
  9. 9. vgl. Bundesamt für Kultur (Hg.), Schiffbau Transformation eines Ortes. Basel 2003.
  10. 10. Die Bochumer Jahrhunderthalle wurde 1903 nach den Plänen des Baubüros des Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation vom Architekten H. Schumacher zwischen Werkbahn und Hochofenanlage als Gaskraftzentrale wiederverwendet und über die Jahre sukzessive erweitert. Die monumentale Stahlkonstruktion aus Bogenbindern war ein Jahr zuvor auf der Industrie- und Gewerbeausstellung in Düsseldorf aufgebaut worden.
    Ermutigt durch die erfolgreiche Zwischennutzung für diverse Kulturveranstaltungen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (1989-1999) nutzte man im Februar 2002 nach den Plänen des Düsseldorfer Architekturbüros Petzinka Pink Architekten die ehemalige Gaskraftzentrale zur Bochumer Jahrhunderthalle für Kunst- und Kulturveranstaltungen definitiv um. vgl. Internet-Informationen zur Bochumer Jahrhunderthalle.
  11. 11. Eine europaweite Vergleichsstudie zur Umnutzung von Industriebrachen liegt noch nicht vor.
  12. 12. Informationen Bundesamt für Energie und Energie 2000, energie extra, Heft 1 (1999) Januar, s. auch Heft 1-2 (2000) Januar, Gestalt und Gestaltung der Nachhaltigkeit, in Zusammenarbeit mit der Architekturzeitschrift Hochparterre, Interviews und Stellungnahmen führender Architekten zum Nachhaltigen Bauen u.a. durch Hans Kollhoff, S. 26f.
  13. 13. vgl. u.a. z.B. Martin, Dieter/Kreutzberger, Michael (Hg.), Handbuch Denkmalschutz und Denkmalpflege. Recht – fachliche Grundsätze –Verfahren – Finanzierung, München 2004, S. 206-212. mit übergeordneten Betrachtungen zur Umnutzung oder Thomas, Horst: Weiternutzung und Umnutzung. in: Thomas, Horst (Hg.), Denkmalpflege für Architekten und Ingenieure. Vom Grundwissen zur Gesamtleitung, Köln 2004, S. 96-112.
  14. 14. vgl. Hassler, Uta/ Kohler, Niklaus/Wang, Wilfried (Hg.), Umbau. Über die Zukunft des Baubestandes, Berlin 1999. und Hassler, Uta/Kohler, Niklaus (Hg.), Das Verschwinden der Bauten des Industriezeitalters. Lebenszyklen industrieller Baubestände und Methoden transdisziplinärer Forschung, Berlin 2004.
  15. 15. Schmidheiny, Stephan: in: Kathrin Meier-Rust, „Ohne Ökoeffienz geht es nicht mehr. Der Unternehmer Stephan Schmidheiny über Nachhaltigkeit und die notwendige Globalisierung der Hochschulen, Interview, in: Die Weltwoche Nr. 6, 10. Februar 2000, S. 56.

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